Anonymisierte Fallstudie: Scrum lässt sich vielseitig im Marketing einsetzen. Marketingkampagnen werden von crossfunktionalen Teams entwickelt. Die wissensbasierte Arbeit in meist komplizierten oder komplexen Problemlagen macht das Kampagnenmanagement zu einem Musterfall für die Anwendung von Scrum, so wie in diesem Projekt in einem mittelständischen Handelsunternehmen.
von Andreas Karutz
Erfolgreiche Marketing-Kampagnen mit Scrum
Ausgangslage
Das Handelsunternehmen vertreibt sein Sortiment größtenteils im eigenen Online-Shop und auf externen Plattformen (Umsatzanteil > 60%). Ein Print-Geschäft (Kataloge, Flyer, Mailings) und ein Dutzend Shop-in-Shop Outlets steuern den Rest bei. Zur Sicherstellung eines einheitlichen und schlagkräftigen Marktauftritts hatte das Unternehmen ein Kampagnenteam gebildet. Dieses setzte sich aus Vertretern aller Bereichen des Hauses zusammen, die hinsichtlich Inhalt, Abstimmung und Entscheidung einer Kampagne zusammenarbeiten mussten. Teilweise saßen bis zu 25 Mitarbeiter in Sitzungen des Kampagnenteams, wobei 15 Bereichsvertreter die Stammbesetzung bildeten (Mindestzahl).
Wie in vielen Unternehmen üblich machte das Team viele Vorlagen (Power Point). Es visualisierte werbliche Ideen, rechnete KPIs, entwickelte die Verkaufsförderung und machte die Media-Pläne und verteilte die (Zwischen-)Ergebnisse an alle Leitungsbereiche und die Geschäftsführung.
Mit dem Output des Kampagnenteams war die Geschäftsleitung nicht zufrieden. Die entwickelten Kampagnen wurden als „minderwertig“ bewertet (Konkurrenz hatte mehr Content und bessere VKF-Verstärker, war schneller in der Aufnahme aktueller Trends und Themen im Markt, das eigene Produktangebot war teilweise nicht passend und bestand aus zusammengesuchten Resten ohne thematischen Bezug zur Kampagne, Preisaktionen hatten kaum mehr Qualität als Sonderangebote). Hinzu kam eine langsame Umsetzung.
Doch trotz aller Forderungen und Ermahnungen kam eine stringente, kanalübergreifende Marktbearbeitung nicht zustande und die Geschäftsleitung verlor die Geduld.
Unsere Aufgabe
Die Geschäftsleitung beauftragte uns mit der Erarbeitung einer schnellen Lösung zur Abhilfe – ohne Restriktionen. Erwartet wurden Veränderungen in der Führung und Organisation im Hinblick auf eine bessere Zusammenarbeit aller Bereiche.
Unser Vorgehen
Wir machten „fliegende Interviews“ mit allen Stakeholdern und einzelnen Teammitgliedern, um schnelle Erkenntnisse zu gewinnen. Erfahrungsgemäß kann man mit dieser einfachen Methode rund 80% aller relevanten Punkte schnell aufdecken (wenn man die richtigen Fragen stellt). Wir gewannen folgende Erkenntnisse:
Leitung Kampagnenteam
Die frustrierte Leiterin des Kampagnenteams berichtete von vielen Hindernissen: Ideen werden pauschal verrissen, alles wird „zerrechnet“ und in KPIs gepresst. Neues kann nicht ausprobiert werden, weil die Fachbereiche sich sperren und Risiken immer höher als Chancen gewichtet werden. Das Team findet keine Anerkennung. Entscheidungen werden nur schleppend getroffen. Beim Vortrag in der Geschäftsleitung kennen einzelne GL-Mitglieder die Themen teilweise nicht, weil sie die Unterlagen nicht gelesen haben. Beschlüsse wurden nachträglich wieder einkassiert und neue Aufgaben seitens der GL zur Prüfung oder zum Nachreichen gestellt. Der Koordinationsaufwand sei unmöglich zu erledigen.
Teammitglieder
Die in das Kampagnenteam entsandten Teammitglieder waren ohne Entscheidungskompetenz und wurden als „Briefträger“ eingesetzt (Leute aus der zweiten Reihe). Finale Abstimmungen fanden ausschließlich in den Stammbereichen statt. Die Teammitglieder empfanden ihre Arbeit mehrheitlich als ungeliebte Aufgabe, die sie neben ihren eigentlichen Job zu erledigen hatten und die außer Ärger im eigenen Bereich und fehlender Anerkennung nichts brachte.
Geschäftsleitung
Der Geschäftsleitung war nicht entgangen, dass entgegen der Intention der ressortübergreifenden Zusammenarbeit, das Produktmanagement (PM) und der Vertrieb (VK) vor allem ihre eigenen Wünsche einbrachten und New Media (NM) sich selbst als führenden Vertriebskanal sah und das vom Marketing angeführte Kampagnenmanagement als untergeordnet oder gar als Konkurrenz betrachtete (z.B. verbat sich im Inbound-Marketing NM jede Einmischung von außen).
So entwickelte nur das Marketing Kampagnenideen (Thema, Testimonial, Produkte, Preise, VKF, kanalübergreifende Werbung und Kommunikation etc.), während die anderen Bereiche nur ihre originären Aufgaben betrachteten („not-my-job Syndrom“) oder als Anforderer vor allem begrenzend und einhegend wirkten.
Trotz dieser (bekannten) Tatsachen hatte es keine Maßnahmen seitens der Geschäftsleitung gegeben.
Unsere Lösung
Aufgrund unserer Erfahrungen mit Kampagnenteams präferierten wir aus Beratersicht eine Scrum Lösung und konfektionierten diese für das Unternehmen. Wir wissen, dass diese funktioniert und außerdem war eine schnelle Lösung gefordert.
Kampagnenmanagement besteht aus permanenten Projekten die iterativ entstehende Produkte ausliefern, nämlich (sukzessiv fertig werdende) Marketing-Kampagnen. Große und teure Kampagnen werden begleitend durch die Marktforschung und mit Testkunden (Panel) vorgeprüft, so dass die Kundensicht enthalten ist. Die Arbeit ist wissensbasiert und unterliegt ständigen Veränderungen. Die zu lösenden Probleme bewegen sich mit Masse zwischen kompliziert und komplex (Anforderungen aus dem Haus, Konkurrenzverhalten, Kundenwirkung, Sondereinflüsse).
Das ist ein Musterfall für die Anwendung von Scrum. Da Scrum im Grunde einfach ist – es besteht aus drei Rollen, fünf Aktivitäten und drei Artefakten –, konnten die „technischen“ Inhalte kurzfristig geschult werden; das war leicht. Um die neue Art zu arbeiten auch leben zu können wurde begleitend gecoacht.
Umsetzung und Erfolg
Neue Rollen
Die bisherige Leiterin des Kampagnenteams übernahm die Rolle als Product Owner. Diese Rolle lag nah, weil auch ihre bisherige Führung eine fachliche und keine disziplinarische war und in der Aufgabe der Leiterin das Stakeholder-Management lag. Zudem muss ein Product Owner ein vertieftes Verständnis vom gesamten Produkt (die User-Story der Kampagne) und seiner Erstellung (crossfunktional) haben, um ein Backlog führen zu können. Alles das brachte die Leiterin des Kampagnenteams mit.
Zum Scrum Master wurde ein Projektmanager bestellt, der einschlägige Erfahrungen in der Anwendung von Scrum außerhalb der IT mitbrachte.
Nach unseren Erfahrungen braucht ein agil arbeitendes Unternehmen einen bestimmten Typ von agiler Führungskraft. Diese Schlüsselfunktion wird im realen betrieblichen Alltag zu oft vergessen und sie kommt in der Rollenverteilung von Scrum auch nicht vor.
Eine agile Führungskraft ist ein "Möglichmacher" im Unternehmen. Um ein „Möglichmacher“ zu sein reicht es nicht ein agiles Mindset zu haben, sondern es bedarf eines hohen Durchsatzes in der Organisation. Nur erprobte und bisher erfolgreiche Führungskräfte können auf andere Bereiche einwirken und Erledigungen verlangen, Ressourcen mobilisieren und das Team schützen und unterstützen. Da wir das im Vorfeld mit der Geschäftsleitung geklärt hatten, wurde eine starke und im Haus anerkannte seniore Führungskraft dafür gewonnen.
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Neue Verantwortung
Das Team bekam die volle Entscheidungskompetenz über die Kampagnen (Budget, Ziele, Inhalt, Umsetzung).
Um dieser Verantwortung gerecht werden zu können, wurde das Team neu gebildet nach den Kriterien
- fachliche Expertise,
- Standing im eigenen Bereich,
- Kooperationsfähigkeit und
- prognostizierte Veränderungsbereitschaft im Job.
Die Rolleninhaber (inkl. der agilen Führungskraft) und das Team wurden für zwei Monate begleitend gecoacht und lernten die Scrum Aktivitäten mit Leben zu füllen. Vor allem in den täglichen Stand-Up Meetings (Daily Scrum) und im Sprint Planning erlebte sich das Team auf bisher unbekannte Weise neu und organisierte sich überraschend schnell.
Die Stakeholder (Fachbereiche, Geschäftsleitung) haben die Möglichkeit, sich in den Sprint Plannings und Sprint Reviews einzubringen. Hinsichtlich der Aufgaben für das Backlog hält der Product Owner als alleiniger Ansprechpartner den Kontakt zu den Stakeholdern und verantwortet den inhaltlichen Austausch.
Verzögerungen werden nicht mehr geduldet. Es entfallen die bisherigen (Genehmigungs-)Präsentationen und es gibt keine hinhaltende Behandlung von Themen bzw. Entscheidungen („dazu müssen wir uns erst intern abstimmen“) mehr. Beliebte Spielchen, wie z.B. das Warten auf Protokolle und späteres Umdeuten oder Abändern von Beschlüssen und Zeitverschleppungen jedweder Art wurden unterbunden. Wer an diesen Scrum Aktivitäten teilnimmt ist vollständig informiert und muss entscheidungsfähig und qualifiziert vorbereitet sein. Damit wurden alle Teammitglieder entsendenden Fachbereiche inhaltlich in die Pflicht genommen.
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Neue Arbeit
Ab dem dritten Monat hatte sich das Team aufeinander eingestellt und aktive Unterstützung durch die agile Führungskraft erlebt. Es arbeitete im Scrum Prozess und lieferte akzeptierte Ergebnisse in kurzen Zyklen.
Interessanterweise hatte sich – unabhängig von uns – eine wöchentliche „Kaffeerunde“ gebildet, zu der das Team Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen und auch Mitglieder der Geschäftsleitung traf, um im Kontext von Markt-Kunde-Konkurrenz informell Ideen zu diskutieren und Ansichten auszutauschen. So wurde wertvoller Input für die Kundenbearbeitung aber auch Verständnis für gegebene Restriktionen in anderen Fachbereichen gewonnen.
Fazit
Scrum Teams sind keine heile Welt Inseln, weder in der Softwareentwicklung noch in anderen Unternehmensbereichen. Die Fähigkeit zur Selbstführung eines jeden Teammitglieds geht einher mit der Fähigkeit zur Kontrolle der jeweils anderen.
Dazu muss jedes Mitglied fachlich über den eigenen Tellerrand hinaussehen können. Das ist bei der Personalauswahl zu berücksichtigen. Die Teammitglieder verpflichten sich einander zur Erledigung ihrer jeweiligen Aufgaben entsprechend der Definition of Done (DoD). Werden diese Verpflichtungen durch Einzelne längere Zeit nicht eingehalten, hat das Team die Verpflichtung, das an den Scrum Master zu eskalieren und ggf. über die agile Führungskraft einen personellen Wechsel zu erwirken.
Eine starke agile Führungskraft ist unverzichtbar! Nur sie kann Rückendeckung geben, Ressourcen mobilisieren und den Anspruch an einen wirksamen servant leader erfüllen.